«Ich würde mein letztes Geld für einen Restaurantbesuch ausgeben»
Ausgebildeter Opernsänger, Comedian, Entertainer und seit 400 Tagen Gemeindepräsident der Gemeinde mit dem wertvollsten Namen: St. Moritz. Dennoch ist Christian Jott Jenny im Herzen Zürcher geblieben. Im Interview mit Christa Rigozzi erzählt er im Restaurant Birchegg, was er in der Corona-Pause gekocht hat, was er im Restaurant gerne isst und was seine Träume sind.

Christa Rigozzi: Christian Jott Jenny, wie sah Ihr Alltag im Lockdown aus?
Christian Jott Jenny: Ich habe den Lockdown wie eine Generalpause erlebt. Eine Generalpause – wie man in der Musik sagen würde – von allem, wie wir es vorher gewohnt waren. Im Gemeindehaus – auf der Verwaltung – war ich dennoch fast jeden Tag. Generell hatte ich in meiner Funktion als Gemeindepräsident einer internationalen Gemeinde schon einiges zu tun: Man wusste ja tatsächlich zu Beginn nicht, was auf einen zukommt!

Zum Glück haben wir auf unserer Kanzlei viele Einzelbüros, sodass wir einen Notbetrieb aufrechterhalten konnten. Wobei ich nicht der Meinung bin, dass ich mein Amt am besten erfülle, wenn ich viel im Büro bin. Viele glauben ja, wenn man auf einem grossen Bürostuhl mit acht Rädern sitzt, sei man am produktivsten. Ich glaube, ich bringe der Gemeinde am meisten, wenn ich draussen bei den Leuten oder unterwegs bin und kreative, neue Ideen habe.

Ansonsten war ich – das ist die positive Seite – sehr viel mehr zu Hause als sonst. So war ich – vielleicht etwas bünzlig – für jedes Zmittag zuhause. Wo sonst?! Ich habe mit meiner Familie wahrscheinlich noch nie so viel selber gekocht wie zu dieser Zeit. Ausserdem wollte ich endlich lernen, wie man eine richtige Sauce Béarnaise macht. Mit Rolf Sachs haben wir immer Fotos ausgetauscht, wenn uns wieder eine Sauce speziell gut geglückt ist. Zum Glück habe ich eigene Hühner: So hatte ich immer genügend frische Eier zur Verfügung. Ansonsten bin ich eigentlich kein guter Koch: Ich bin in meiner Familie eher bekannt und auch geschätzt als Frühstückskoch: Eier, Speck, Toast – darin bin ich wirklich gut. Und neuerdings eben auch Sauce Béarnaise. Es fasziniert mich, wie Reduktionen entstehen.

Physical Distancing ist für Sie als Reisefreund und Kulturschaffender bestimmt besonders hart.
Tja, daran mussten wir uns alle gewöhnen. Wobei ich das mit dem Hände schütteln gar nicht so falsch empfinde. Da haben die Asiaten uns etwas voraus. Die verneigen sich einfach. Das finde ich eigentlich sehr schön. Und virenfrei.

Nach über 400 Tagen im Amt zieht der ausgebildete Opernsänger eine erste Bilanz als Gemeindepräsident von St. Moritz. Macht sich Zufriedenheit breit oder Ernüchterung?
Es liegt nicht an mir, Bilanz zu ziehen. Das müssen Sie die Einwohner fragen! Aber grundsätzlich macht mir die Arbeit in der Verwaltung Spass – hier gibt es allerlei geniale Vögel. Man muss sie einfach nur machen lassen ...! Den «politischen Kleinmist» finde ich hingegen nur halb so nachhaltig ...

Man liest viele Schlagzeilen darüber, dass der neue Gemeindevorstand alles neu machen will. Stichwort: mehr grüne Umwelt, weniger Luxus.
Es ist wichtig, dass die Arbeit in der Verwaltung auf Gemeindeebene nicht mit den Ideen und Zielen der Vermarktungs-AG verwechselt werden. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Aber ich glaube, dass uns die Corona-Krise aufzeigt, dass es nicht immer so weitergehen kann. Ich bin überzeugt, dass die jüngeren Gäste von St. Moritz mehr Ansprüche an die Nachhaltigkeit haben und zum Beispiel wissen wollen, wer die Wurst produziert hat, welche man zum Zvieri isst. Und dieser Gast will dazu ein Glas Wein aus der Gegend und nicht aus Argentinien trinken. Das kulinarische Erlebnis hängt direkt mit der Umgebung zusammen: Ich weiss, wo das Tier aufgewachsen ist, ich habe mit dem Bauern ein paar Worte gesprochen, ich bin durch den Rebberg gewandert. Für mich ist das «der neue Luxus». Diese Tendenz haben wir schon vorher gespürt. Jetzt mit Corona kommt diese Veränderung einfach noch viel schneller.

Sie sind Entertainer, Comedian, Sänger. Wie kommt es, dass Sie heute Gemeindepräsident von St. Moritz sind?
Ganz kurz gesagt: Ich wurde gewählt. Aber Sie kennen das: Viele Menschen reklamieren, dass die Politiker nicht das machen, was sie sollten. Zu diesen Menschen habe ich immer gesagt: «Dann mach es doch besser!» Ich musste aber feststellen, dass viele Menschen dann nicht den Mut haben, sich nominieren zu lassen. Immer wieder gab es Stimmen, die dann sagten, ob nicht ich mich aufstellen lassen will. Und irgendwann habe ich gesagt: wieso nicht?

Was macht ein Gemeindepräsident anders als ein Entertainer?
Am Ende des Tages: nicht viel! Spass am Rande. Nein: Wichtig ist, dass man die Zwischentöne der Menschen wahrnimmt und danach handelt. Und Ideen ankurbelt und ermöglicht. Ich sehe mich als Enabler.

Ist Humor auch in Nach-Corona-Zeiten noch erlaubt?
Humor ist immer erlaubt. Auf meiner Abteilung ist Humor sogar Pflicht! Wobei heutzutage ja viele Menschen unfreiwillig humoristisch sind ... Das sind meistens die Lustigsten!

Wie kombinieren Sie Ihre Auftritte als Entertainer und als Politiker?
Ich habe Sie erlebt an der letzten Red-Cross-Gala: Angekündigt waren Sie als Entertainer. Dennoch haben Sie viel Politisches gesagt an diesem Abend. Grundsätzlich bin ich nicht der Meinung, dass man das trennen muss: Gerade diese Kombination finde ich interessant und ich glaube, dass ich damit viel erreichen kann. Politik ist ja manchmal auch wie eine Oper: grosses Drama! Aber selbstverständlich kann ich auch 100% Gemeindepräsident sein, wenn es formell sein muss.

Es gibt ja Menschen, die meinen, Sie sollten die Aufgabe des Tourismus-Direktors für Graubünden übernehmen. Was meinen Sie dazu?
Das ist natürlich eine grosse Ehrenbezeugung. Aber zurzeit interessiert mich diese Aufgabe nicht. St. Moritz ist einer der besten Brands weltweit mit mehr Ausstrahlung als zum Beispiel das Engadin, das Ticino oder Zürich. Das war möglicherweise auch einer der Gründe, weshalb das Projekt «Olympische Winterspiele Graubünden 2022» gescheitert ist. Man hätte zuerst der ganzen Welt erklären müsse, was «Graubünden» ist. Wobei ich sicher bin, dass das Projekt auch zu wenig nachhaltig war: Olympische Wettkämpfe, wie sie bis jetzt ausgetragen wurden, kann man wohl nur noch in Regionen durchführen, wo Autokraten das Sagen haben. Wo demokratische Entscheide gefällt werden, müssen viel nachhaltigere und auch kleinere Anlässe angedacht werden. Mich würden die kleinsten, billigsten und nachhaltigsten Olympischen Spiele interessieren ... So was hätte heute wieder eine Chance!

Was wünschen Sie sich für die Zukunft für St. Moritz und für das Engadin?
Ich denke, etwas mehr Gelassenheit und Off enheit gegenüber Neuem. Wenn etwas (zu!) lange funktioniert hat, dann vertraut man dem und man möchte es bewahren. Aber dann kann es passieren, dass man die Zukunft verpasst und es zu spät ist. Und ich wünsche mir, dass man die Sensibilität für ein nachhaltige Entwicklung der Region erlangt.

Weshalb haben Sie das Restaurant Birchegg (da Michele) für das Interview vorgeschlagen?
Ohne dieses Lokal würde ich nicht mehr leben ... Michele ist seit über 20 Jahren mein Psychiater. Also eigentlich macht er gar nichts. Er hört einfach zu. Der letzte Generalmusik-Direktor der DRS-Bigband Emil Moser hat mich hier eingeführt, als ich knapp 20 Jahre alt war. Hier bei Michele war es ja ein bisschen wie die Kantine der Kreativen vom Radio: Musiker, Kabarettisten und Hörspielautoren sassen hier, bevor sie rüber ins Studio gingen. Seither bin ich immer hier, wenn ich in Zürich bin. Er sagt es ja auch selber: Das Restaurant ist seine Stube und er empfängt die Gäste. So ist es für mich also immer ein bisschen, wie zu einem Freund zu kommen, dem ich alles erzählen kann.

Ihr Lieblingsgericht?
Abwechslung.

Was darf in Ihrem Vorratsschrank nie fehlen?
Eine frische, gute Bouillon, eine gute Wurst und Eier. Und Weine.

Was schätzen Sie bei einem Restaurantbesuch?
Restaurants bedeuten für mich Leben und Gemeinschaft. Ich würde mein letztes Geld für einen Restaurantbesuch ausgeben!

Was mögen Sie nicht in einem Restaurant?
Wenn es kein Leitungswasser gibt. Es geht mir dabei nicht ums Geld. Aber ich mag keine Kohlensäure im Wasser. Und ich trinke zum Essen immer auch Wein. Da muss ein Glas Hahnenwasser einfach drinliegen!

Was ist Ihnen wichtig?
Mir ist wichtig, dass ich mich wohlfühle: Es muss gemütlich sein, das Personal muss leidenschaftlich Gastgeber sein, ich muss mich willkommen fühlen!

Ihr Lieblingsrestaurant in Zürich?
Hier, im Restaurant Birchegg.

Welches Buch liegt grad auf Ihrem Nachttisch?
Babyjahre von Remo H. Largo sowie der Fragebogen von Max Frisch.

Welches ist Ihr Lieblings-Schriftsteller/ Autor?
Jeremias Dubno und John Michael Ruegg.

Welche Vorbilder haben Sie?
Gottlieb Duttweiler: eine grosse Figur und Patron! Und ich bin ein Migros-Kind.

Ihre wichtigste Erkenntnis?
Die eigene Unwichtigkeit auf der Welt. Und: Selbstironie hilft.

Welchen Film haben Sie zuletzt gesehen?
Gestern Abend: «The Party» mit Peter Sellers.

Was für Musik hören Sie gerade?
Die schönsten Canzoni Italiens von Robert Weber, welche Michele hier gerade laufen lässt.

Welche CD würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen?
Eine selbstgebrannte CD mit 77 Minuten der besten Musik. Auch hier gilt: Abwechslung.

Welche ist Ihr nächstes Projekt? Nächstes Ziel?
Die Krönungsausgabe des Festival da Jazz: die 13. Ausgabe! Und natürlich TRITTLIGASS 2020, das sommerliche Grippenspiel, dass es seit den «roaring 60ties» gibt und nur wegen eines Virus sicher nicht ausfallen darf. Kurz gefragt ...

Auto oder Zug? Auto und Zug!
Wein oder Bier? Wein!
Pasta oder Sushi? Pasta.
Winter oder Sommer? Sommer.
Berge oder Meer? Beides.
Wann haben Sie zuletzt geweint? Gestern.
Wer bringt Sie zum Lachen? Victor Borge.
Welches Tier wären Sie am liebsten? Ein Schöfli.
Was ist für Sie die grösste Lücke?
Die Zahnlücke meiner Tochter.
Das grösste Glück? Meine Kinder.
Facebook oder Instagram?
Nokia! Ich habe kein Smartphone.

Werbung
Werbung